Achtsamkeit

Wir sind auf der Suche – du, ich, einfach alle. Denn das Bedürfnis nach Orientierung scheint immer größer zu werden, nicht umsonst boomen Lebenshilfebücher, Zen-Seminare, Yogakurse, Mentaltechniken und Esoterik-Schnickschnack. Alles läuft zunehmend schneller und kurzlebiger in unserer Welt, da sehnen wir uns plötzlich nach Sicherheiten. Wir möchten das Optimum aus unserem Leben herausholen, nichts verpassen und nichts bereuen. Das ist absolut legitim. Und deswegen brauchen wir Antworten. Denn die Angst, auf dem falschen Weg zu sein und, ups, schon ist es zu spät, diese Angst macht uns ruhelos.

Sind wir auf dem richtigen Kurs?

Die gute Nachricht: Ja, es gibt Antworten auf all unsere Fragen. Die etwas holprigere Nachricht: Diese Antworten liegen in uns selbst. Und genau da liegt die Crux.

So vielseitig und individuell wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Antworten. Was mich erfüllt, würde Dir eventuell nur ein ratloses Kopfschütteln entlocken. Es geht also nicht anders: Du musst nach deinen Antworten in dir selbst suchen. Und das klappt nicht mit dem Erstellen von Stärken- und Schwächen-Listen. Dein schlauer Verstand muss hier schweigen, sonst hörst du die Stimme deines Herzens nicht. Indem du auf das Außen lediglich mit wacher Achtsamkeit und ohne Wertung und Urteil reagierst, öffnest du dein inneres Gehör. Du bahnst dir so quasi den Weg zu einem Dialog mit deinem Herzen. Und möchtest du diesen Weg zusammen mit mir gehen, müssen wir beide lernen, achtsam zu spüren und wertfrei und liebevoll uns selbst gegenüber zu erkennen, was ist. – Das ist bereits alles.

„Für mich ist Achtsamkeit – nicht nur das Wort, sondern die darunter- und dahinterliegende Praxis der Achtsamkeit – der Weg zur Evolution unserer inneren Weisheit.“

(Interview mit John Kabat-Zinn, Begründer der Achtsamkeitslehre, www.mbsr-verband.de

Achtsamkeit ist der Weg, der dich zu dir selbst führt.

Der achtsame Weg beschert dir also tiefe Einsicht in dein wahres Sein, in deine innere Weisheit. Solltest du ähnlich gestrickt sein wie ich, meinst du bestimmt auch, so einigermaßen zu wissen, was dein wahres Ich sei. Du kennst deine Muster und Ängste. Und trotzdem, irgendwie kannst du dich nicht davon lösen. Immer wieder tauchen sie auf und stellen sich dir in den Weg. Achtsamkeit lässt dich diese Mauern, die dich innerlich gefangen halten, im rechten Moment erkennen, so dass du dich davon lossagen und deiner Wahrnehmung für das, was wirklich ist, öffnen kannst. Mit Achtsamkeit kriegst du sozusagen den nötigen Abstand, um uns nicht immer wieder in den gleichen Fallstricken zu verheddern. Je geübter und selbstverständlicher du schließlich erkennst, was dich emotional triggert, desto weniger brauchst du diese Muster und desto freier von Ängsten und desto selbstbestimmter kannst du leben. Dann gelangst du auch zu dem wahren Ich, das die ganze Zeit im Schlummerschlaf unter diesen vielen Verknotungen ruht, eingebettet in deiner Herzensweisheit.

In der Achtsamkeit erkennst du, wie sehr du deinem Geist ausgeliefert bist

Achtsamkeit mag gerade Trend sein, doch ist dieses Thema im Grunde uralt. Die Ursprünge reichen weit zurück, gut 2500 Jahre, verwurzelt in der Lehre Buddhas. Tatsächlich ist Achtsamkeit eine wichtige Grundlage buddhistischer Praxis. Achtsamkeit deckt Ursachen auf, zum Beispiel für unsere Gefühle und Handlungen und zeigt uns die wahre Natur der Dinge. Es geht darum, klar zu „sehen“, was wirklich ist. Alles Unwesentliche, was sich bloß in unseren Gedanken abspielt, verliert dann an Gewicht. Jedoch weißt du selbst, es ist nicht so einfach, nur einen einzigen Moment präsent zu sein, mit allen Sinnen in dem Moment, hundert Prozent gegenwärtig. Das erfordert eine enorme Hingabe an das momentane Sein. Der Geist ist unermüdlich und liefert uns ständig Bilder. Bestimmst hast du schon einmal probiert, an nichts zu denken – nicht leicht. Beobachte beispielsweise deinen Geist bei der nächsten Verabredung mit einer Freundin. Ihr zwei sitzt nett zusammen in einem Restaurant und noch während du der Unterhaltung lauschst, füttert dein Geist dich mit anderen Gedanken, zum Beispiel: „Schicke Frisur hat sie, ich lass mir die Haare auch kürzer schneiden, sie sieht immer so jung aus, ich dagegen kriege immer mehr Falten, herrje, wann kommt sie endlich zum Punkt, oh Gott, morgen früh muss ich schon um acht Uhr im Büro sein, zu spät darf es heute nicht werden, hätte der neue Azubi etwas mehr Pfiff, wären wir lange durch mit dem Projekt, komischer Typ ist das …“

Erkennst du dich da wieder? Dein Geist fischt ohne Absprache mit dir Gedanken hervor. Und diese Gedanken lösen bei dir entsprechende Gefühle aus. Innerhalb kürzester Zeit kannst du dabei eine komplette Gefühlsskala durchleben von Neid, Unzufriedenheit, Genervtheit, Stress, Ärger und vieles mehr. Statt den Moment des Zusammenseins mit der Freundin zu genießen, schleichen sich über die Gedanken Gefühle ein, die mit der Situation rein gar nichts zu tun haben. Diese Gefühle jedoch bestimmen deine Haltung und letztendlich deine Handlungen. Zurück zum Beispiel: Vielleicht rutscht du schon bald unruhig auf deinem Stuhl hin und her, schaust nebenbei aufs Handy und zerpflückst den Bierdeckel. Statt lebhaft am Gespräch teilzunehmen, achtsam zuzuhören und ebenso achtsam deine Belange zu erzählen, wirst du einsilbig und am Ende des Abends bleibt wohlmöglich das traurige Gefühl, nicht wirkliche Nähe geteilt zu haben.

Diese AbfolgeGedanken – Gefühle – Haltung /Handlungläuft quasi automatisch ab. Wirst du dir dessen nicht achtsam gewahr, bist du diesem Automatismus ausgeliefert. In der Summe fühlst du dich dadurch zunehmend fremdbestimmt und dem Leben ausgeliefert.

Der vietnamesisch buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh schreibt in seinem Buch „Nimm das Leben ganz in deine Arme“:

„Im Buddhismus wird der Geist (manas) oft mit einem Affen verglichen, der sich von Ast zu Ast schwingt und uns damit immer wieder in die dunkle Welt von Schmerz und Leiden führt.“

Mönch Thich Nhat Hanh

Achtsamkeit deckt Konditionierungen und Gedankenmuster auf.

Durch Achtsamkeit kannst du also die Sprünge deines Geistes rechtzeitig erkennen und ihn daran hindern, sich an Orte zu begeben, die dir nicht guttun. Außerdem erkennst du all die Prägungen, Gedankenmuster und Wahrnehmungsgewohnheiten, die dein Leben bestimmen. Da wir von klein auf an durch andere Personen – erst Eltern und Verwandte, dann Freunde, Lehrkräfte usw. – konditioniert und gedanklich geprägt werden, steckt vieles in uns, was wir von anderen Menschen übernommen haben. Natürlich werden wir auch gesellschaftlich geformt und nicht zu vergessen das Bild, dem wir selber gerne entsprechen möchten, von dem wir meinen, dass es unser Wesen darstelle. Denn jeder – ich ganz vorne an – hat ein Bild von sich, das er gerne in die Welt projektieren möchte.

Laut Thich Nhat Hanh sind unser Kummer und unsere Freude verwurzelt in der Natur, in der Gesellschaft und in den Menschen, mit denen wir leben:

Unser ‚Selbst‘ besteht nur aus ‚Nicht-Selbst-Elementen‘.“

Mönch Thich Nhat Hanh

Durch die Praxis der Achtsamkeit entlarvst du sozusagen deine unbewussten Motivationen und hast durch die Aufdeckung die Chance, dich von ihnen zu lösen. Du trägst nach und nach Persönlichkeitsschichten ab und entdeckst mehr und mehr, was dein Herz dir sagt und erkennst die Person, die du wirklich sind. Stelle dir eine dieser ineinander geschachtelten Matroschka-Puppen vor, bei denen man immer ein Gehäuse nach dem anderen entfernt, bis man auf eine entzückende, kleine Holzpuppe im Inneren stößt. So ähnlich kannst du mit der Praxis der Achtsamkeit ebenfalls alle deine Hüllen ablegen. Denn selbst wenn du meinst, du würdest dich bereits absolut authentisch nach außen zeigen, erst in den Momenten der Achtsamkeit erfährst du, ob deine sogenannte Authentizität auch tatsächlich die Sprache deines Herzens spricht.

Achtsamkeit basiert auf den „vier Wahrheiten“

Doch zurück zu den Ursprüngen: Während Buddha in tage- und nächtelanger meditativer Stille versank, durchlebte er innerlich geradezu eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. Während dieser Zeit der wachen Präsenz und inneren Einkehr begegnete er dem gesamten Spektrum menschlicher Regungen: Glück, Freude, Zufriedenheit, aber ebenso auch Wut, Unruhe, Angst, Verlangen, Resignation und Abwehr. Und er erkannte, dass sämtliche Gedanken in seinem Kopf, die diese quälenden Emotionen hervorriefen, eben nichts weiter als Gebilde seines Geistes waren. Mit der Realität hatten sie nichts zu tun, alles spielte sich in seinem Kopf ab. Sobald er diese Gedanken- und Gefühlswogen bewusst als das annahm, was sie waren, nämlich Konstrukte seiner Fantasie, lösten sie sich mehr und mehr auf.

Basierend auf diesen Erfahrungen während seiner ununterbrochenen Meditation stellte er die „vier Wahrheiten“ auf – Grundlage des Buddhismus:

  1. Es gibt Leiden
  2. Es gibt einen Ursprung des Leidens
  3. Es gibt eine Auflösung des Leidens
  4. Es gibt einen Weg, der aus dem Leiden herausführt.

(Der genaue Wortlaut variiert je nach Überlieferung.)

Auch wenn der Begriff Leiden heute etwas überholt und dramatisch klingen mag, so bestimmen diese Wahrheiten noch immer sämtliche unserer Handlungen und Erlebnisse. Ein simples Beispiel: Du streitet mit deinem Partner. Nichts Weltbewegendes, eine schlichte Rangelei, wer ist im Recht, wer im Unrecht ist, alltägliche Szenerie: ein Streit, der im Buddhismus als Leid bezeichnet wird. Natürlich gibt es eine Ursache für die Auseinandersetzung (für das Leid). Und ebenso lässt sich die Situation (das Leid)schlichten, indem ihr neide einen Weg findet(Herausführung aus dem Leid). So banal dieses Beispiel auch scheinen mag, bei genauerer Betrachtung wird es interessant: Welche Empfindlichkeiten beziehungsweise Gedankenmuster oder auch Verletzungen aus der Kindheit wurden bei diesem Streit bei dir angetriggert? Welche tief sitzenden Ängste lauerten bei deinem Partners hinter dem offensichtlichen Grund des Kräftemessens?

„Für die heutige Zeit lassen sich die Wahrheiten mit folgenden Worten zusammenfassen: 

  1. Das Leben verschont keinen (Leben ist Leid)
  2. Der Grund für das Leid (Ursache des Leids)
  3. Das Heilmittel (Ende des Leids)
  4. Du kannst dein Leid beenden. Und nur Du! (Der Weg aus dem Leid)“ 

(https://www.einfachganzleben.de)

Achtsamkeit deckt die Ursachen unseres „Leidens“ auf

Wenn wir uns nun täglich mit sogenanntem Leid herumschlagen müssen, seien es Gefühle von Stress, Fremdbestimmung, Überforderung, Leere oder Unmut, wo liegt denn da die Ursache? Dass wir irgendwie auch selber dran schuld sind, ist schon klar. Aber warum? Im Buddhismus ist es vor allem unser Streben nach Sicherheit und Anhaftung. Zwar behaupte ich gerne, nicht weiter sicherheitsliebend zu sein, geschweige denn anhaftend, schließlich empfinde ich mich als flexibel und kann auch wunderbar ohne all den Luxus, so muss ich doch zugeben, bei eingehender Betrachtung sieht es anders aus: Es beginnt bereits bei der richtigen Kleidung, meinem Handy, Internetzugriff oder dem bereits gebuchten Urlaub für die nächsten Ferien. Und ich stehe nicht alleine da, denn die meisten Menschen wünschen sich ebenso Sicherheit in Beziehungen, im Job und in einem schönen Zuhause. Gerade an Beziehungen gehen wir fast automatisch mit einem Sicherheitsanspruch heran. Dabei bedeutet Leben Wandel, nichts ist statisch und ebenso entwickeln und verändern sich Menschen. Trotzdem schlage ich nicht gerade Purzelbäume, wenn mein Partner plötzlich eigene Wege gehen will. Das passt nicht in mein Konzept, denn geplant war bis der Tod uns scheidet.

So wie eine Pflanze wächst, sobald wir sie in ein größeres Gefäß umtopfen, so müssen wir auch unserem Partner den Raum zugestehen, den er für seine Entfaltung braucht. Es sind unsere Ängste, die in unserem Unterbewusstsein lauern und Neid und Eifersucht in uns entfachen. Wir wollen etwas festhalten, doch nichts gehört uns im Leben außer dem Erleben des jeweiligen Augenblicks. Und statt uns an dem zu erfreuen, was gerade ist, schmieden wir in unseren Gedanken Pläne und bauen Konstrukte, wie unsere Liebe gelebt werden sollte. Leicht laufen wir Gefahr, unser Leben nach unseren Vorstellungen und Wünschen manipulieren zu wollen, immer in der Überzeugung, genau zu wissen, was gut und richtig sei. Nur wie können wir wissen, was gut für uns ist, wenn wir nicht achtsam auf die Stimmen unseres Geistes, die Färbungen unserer Emotionen und die Signale unseres Körpers schauen. Blind folgen wir unseren Vorstellungen vom Leben. Das ist wohl die größte Anhaftung überhaupt. Doch davon sollten wir uns lösen, um das „Leid“ zu beenden.

„Wir können unsere Sicht auf das Leben verändern und somit auch das Leid beenden.“

(https://www.einfachganzleben.de)

Jon Kabat-Zinn, Begründer der wissenschaftlich fundierten Methode der Achtsamkeitspraxis MBSR (Mindfulness-Based-Stress Reduction), schreibt in seinem Buch „Gesund durch Meditation“, dass jede Situation, jeder Vorgang im Leben stets auf unterschiedliche Weise betrachtet werden kann:

„Einmal ist ein Hund einfach ein Hund, an dem nichts Ungewöhnliches ist, dann wieder ist er etwas Besonderes, ja sogar Wunderbares. Es hängt ganz von der Betrachtungsweise ab. Man könnte sagen, dass ein Hund gewöhnlich und ungewöhnlich zugleich ist. Was sich wandelt, ist unser Geist……..Wenn der Geist sich wandelt tauchen vor uns neue Möglichkeiten auf. Die Dinge rücken in eine weitere Perspektive, und auch der Hund wird nicht mehr das sein, was er vorher für uns war.“

Jon Kabat-Zinn

In dem Moment, wo du präsent bist, siehst du klar. Du siehst das, was in dem Moment wirklich ist. Du erkennst, welche Gefühlswogen dich in diesem Moment tragen. Und dadurch, dass du erkennst, bietet sich dir die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen.

Achtsamkeit beschenkt dich mit der Freiheit des selbstbestimmten Handelns

Für Jon Kabat-Zin ist der achtsame Moment des Erkennens bereits der Moment der Loslösung von deinen Emotionen:

„Sobald man aber bewusst wahrnimmt, was in einer stresserzeugenden Situation tatsächlich geschieht, hat man diese Situation auch schon grundlegend verändert und sich einen kreativen Freiraum erschlossen.“

Jon Kabat-Zinn

In diesem „kreativen Freiraum“ stellt sich dir die Möglichkeit, deine Sicht komplett anders auszurichten. Diesen „kreativen Freiraum“ kannst du dir täglich zu Nutze machen. In dem Moment, wo du erkennst, dass du zum Beispiel deswegen so gereizt auf eine Bitte einer Kollegin reagierst, weil du heute morgen zu spät aufgestanden bist, keine Zeit zum Frühstück und den Bus verpasst hattest, in diesem Moment verblasst deine Gereiztheit bereits. Plötzlich hat nicht mehr die Situation dich im Griff, sondern du kannst entscheiden. Du siehst klar, was die Ursache ist.

Für Jon Kabat-Zinn ist dieser innere „Handlungswechsel“ der Moment, der uns den Raum gibt, „bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, was als Nächstes geschieht.“ Dieser Eingriff in den Verlauf der Situation passiert nicht willentlich. Alleine durch deine präsente Wahrnehmung des Geschehens verändert sich das Gefüge der Situation. Du musst also insofern nichts machen, außer achtsam wahrnehmen. In nur wenigen Zehntelsekunden verschiebt sich die Situation, wird sozusagen in einem anderen Licht ausgeleuchtet, ehe du schließlich bewusst eine andere Haltung einnehmt. Zugegeben, anfangs dauert es vielleicht mehrere Sekunden, manchmal erkennt man auch erst im Nachhinein und die Möglichkeit einer anderen Haltung ist vertan. Aber trotzdem ist auch das bereits ein kleiner Erfolg, denn das Erkennen ist der erste Schritt zu mehr Achtsamkeit.

Achtsamkeit lehrt dich die liebevolle Annahme deiner selbst

Natürlich löst Achtsamkeit nicht sämtliches Leid wie von Wunderhand auf. Das wäre auch zu schön. Nein, mit Wunderhänden hat das nichts zu tun. Jedoch sehen wir klarer. Und durch diese Sichtweise können wir uns von Emotionen lossagen. Solltest du erwarten, dass du mit Achtsamkeit unliebsame Emotionen wie Ärger, Wut oder Neid einfach abschütteln oder gar unterdrücken kannst, ist das leider ein Irrglaube. Nein, im Gegenteil: Du gestehst dir ein und auch zu, dass du verärgert bist, traurig, verletzt oder enttäuscht. Es ist sogar sehr wichtig, dass du dieses bewusst spürst und ebenso entsprechend bewusst „schaust“, wie sich diese Emotionen körperlich anfühlen. Allerdings verliert die Emotion durch das wertfreie Erkennen und Verstehen in Bezug auf den Zusammenhang mit deinen Gedanken an Macht und damit an Bedeutung. Dieser Prozess der achtsamen Bewusstwerdung lässt dich zentrierter und besonnener werden. Du lässt dich weniger leicht stressen, weder von anderen noch von deinen eigenen inneren Antreibern. Und da eine erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen die Wahrnehmung verändert, sprich Situationen bedrohlicher erscheinen als sie sind, wirst du mithilfe von Achtsamkeit entspannter und klarer urteilen.

Deine Wahrnehmung verändert sich im Laufe der Achtsamkeitspraxis. Sie erweitert sich, wird allumfassender und gleichzeitig tiefer und wissender.

Selbstverständlich geschieht dieses nicht von heute auf Morgen. Gerade für ungeduldige Naturen liegt hier eine besondere Herausforderung. Wie sich Tropfen für Tropfen mit der Zeit ein Rinnsal formt, bedarf es auch einer regelmäßigen Disziplin in Bezug auf Meditation oder andere Achtsamkeitsübungen, um eine grundlegende Veränderung in Bezug auf deine „automatisch“ ablaufenden Muster zu erzielen. Etwas Nachsicht und „am Ball bleiben“ sind hier sicherlich gefragt. Diese Muster haben sich über Jahrzehnte in dir eingenistet, die lassen sich da nicht so schnell wieder vertreiben. Trotzdem erfährst du relativ schnell und stetig kleinere Veränderungen, die dich immer wieder darin bestärken, dem Pfad der Achtsamkeit zu folgen und nicht aufzugeben.

Achtsamkeit beschenkt dich mit Wertschätzung

Mehr Zufriedenheit und Freude im Leben ist ja bereits schon eine Menge. Mit Achtsamkeit nimmst du das Leben jedoch auch mit wesentlich mehr Wertschätzung wahr. Denn selbstverständlich erhalten die Momente durch Präsenz eine neue Gewichtung. Es verändert sich etwas in der Wertschätzung deines täglichen Ablaufs – seien es nun gute oder schlechte Tage. Und je mehr du das Leben so wertschätzen kannst, wie es gerade ist, desto mehr Wertschätzung spürst du auch für dich selbst. Beides geht quasi Hand in Hand. Dieses ewige Streben danach, von anderen die Wertschätzung zu erhalten, nach der wir uns sehnen, ist viel zu oft der Grund, weswegen wir uns unzufrieden fühlen. Eine nagende, leicht depressive Stimmung. Je mehr wir diesen Wert aber in uns selbst unabhängig des Feedbacks anderer fühlen, desto freier und losgelöster können wir leben. Dabei wirst du auch entdecken, dass du nicht nur dich selbst wertschätzender betrachtest, sondern auch den Menschen um dich herum mit einem liebevolleren und nachsichtigeren Blick begegnest. Beobachte einmal bewusst, wie sich die Gespräche mit anderen Menschen ändern, sobald du Achtsamkeit praktiziert. Du reflektierst mehr und bekommst ein Gespür für dein Gegenüber, in welchen Mustern dieser verstrickt ist. Entsprechend nachsichtiger und besonnener kannst du agieren.

Achtsamkeit stärkt deine Toleranz gegenüber Menschen und Situationen

Meist kriegen wir im Laufe der Achtsamkeitspraxis nicht nur einen klareren Blick für unsere Stolpersteine, sondern auch für die Fehler unserer Lieben. Ganz recht, selbstverständlich kennen wir die Fehler unserer Lieben nur zu gut – in- und auswendig, ärgern wir uns doch täglich darüberJ Aber darum geht es nicht.

Nimm folgendes Beispiel:

Wenn du einen Apfelbaum hast, erntest du Äpfel und keine Birnen. Ich erwische mich oft dabei, trotzdem eine Birne ernten zu wollen statt ich über die Äpfel zu freuen, denn sie haben einen besonderen Geschmack, den mir eine Birne niemals bieten könnte.

In der Achtsamkeit wächst dein Erkennen und dein Verstehen. Du erkennst wesentlich bewusster die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Und diese Andersartigkeit macht dir keine Angst mehr, im Gegenteil, dein Respekt und deine Toleranz wachsen, wo zuvor falsche Erwartungen für Leid gesorgt haben.

Indem du freier von Anhaftung wirst, kannst du dich besser von Werturteilen lösen, um aus reiner Liebe heraus, frei von Erwartung das zu tun, wonach dein Herz sich sehnt.

Im Laufe deiner Achtsamkeitspraxis reift in dir eine ganzheitliche Sicht der Dinge. Normalerweise werden deine Entscheidungen und deine Handlungsspielraum eng durch deine persönlich gefärbte Sicht der Dinge begrenzt. In der Achtsamkeit sprengst du diese Fesseln und vertraust auf das Gesetz der Vergänglichkeit und des natürlichen Wandels.

Wie eine Blume nicht nur die Sonne zum Wachsen braucht, sondern auch Schatten und Feuchtigkeit, gehören auch zu unserem Leben Zeiten dazu, in denen wir im Regen stehen.

 

Achtsamkeit stärkt dich für die Herausforderungen des Lebens

Durch achtsame Gewahrwerdung lernst du, auch das Unangenehme im Leben, zum Beispiel Verluste, Kummer oder Schmerz, anzunehmen. All diese Anstrengungen, stets auf der Suche nach dem Glück, und die krampfhaften Bemühungen, das Schöne dauerhaft festzuhalten, entfallen. Je achtsamer du die Gegenwart wahrnimmst, jeden Tag und jede Stunde, desto vertrauensvoller überlässt du dich dem Fluss des Lebens. Schwierige Situationen verlieren ihre Bedrohlichkeit, denn du erkennst sie als das, was sie sind: Leid, das gelöst werden kann. Sobald du diese Erfahrung machst, bust du auch bereit, Leid anzunehmen. Du fühlst sowohl mit dir selbst als auch mit anderen mit, aber du daran nicht zu Grunde. Diese Gewissheit stärkt dich und beschenkt dich mit einem großen Vertrauen in dich und in das Leben.

Vielleicht kennst du Momente in deinem Leben, in denen du dich mit allen deinen Problemen und Sorgen geradezu nichtig gefühlt hast, ja sogar beschämt, angesichts der überwältigenden Natur. Manche Menschen erleben derartige Momente, wenn sie am Gipfel eines Berges stehen und den Blick zum Himmel über die Hügel bis hinab ins Tal richten. Plötzlich ahnt man das Große Ganze und das eigene Dasein relativiert sich. Der eigene Mikrokosmos erscheint so winzig, eingebettet in etwas viel Größerem. Man spürt die Unermesslichkeit des Universums, fühlt die eigene Endlichkeit angesichts dieser zeitlichen Grenzenlosigkeit. Man erkennt, dass man wie alle anderen Lebewesen ein kleiner Teil in diesem gigantischen Puzzle des Seins ist.

„Und dennoch ist unser Verweilen auf dieser Welt Sache eines Augenblicks, ein kleiner Wirbel in einer großen Strömung, flüchtiges Wellenspiel auf der Oberfläche eines Ozeans von Ganzheit. Jede Welle, jeder Wirbel hat eine eigene Ausprägung, ist aber gebildet aus dem Stoff eines größeren Ganzen, das sich auf eine Weise ausdrückt, die unser Fassungsvermögen letztendlich übersteigt.“

Jon Kabat-Zinn

Jon Kabat-Zinn beschreibt geradezu poetisch, wie wir Teil dieses Großen Ganzen sind. Dieses Wissen schlummert in uns und je achtsamer wird dieses Wissen zu schätzen lernen, desto vertrauensvoller können wir dem Leben begegnen. Gottvertrauen, Urvertrauen, Buddha-Natur – Ich weiß nicht, wie du es nennt, es gibt so viele Bezeichnungen für das, was tief in unserem Herzen ruht. Achtsamkeit hilft uns dabei, hierhin zurück zu kehren.

Achtsamkeit ist ein stiller und nach außen unspektakulärer Weg. Trotzdem ist er unglaublich spannend, da er dich täglich Neues entdecken lässt. Du brauchst dabei nicht suchen, die Antworten kommen von alleine zu dir. Und meistens in den Momenten, in denen du sie gar nicht mehr erwartet. All das viele Gegrübel über den richtigen Kurs löst sich plötzlich in Nichts auf. Du gehst einfach los, achtsam, jeden Tag, ein Schritt nach dem anderen.

Weitere Informationen zur Achtsamkeit

Woche für Woche findest du in unserem Blog von Jutta Vogt-Tegen neue Artikel, die dir helfen sollen, Achtsamkeit im Alltag zu leben. Diese Artikel sind in Themengebiete eingeteilt und zu jedem Thema haben wir für dich noch viele Grundlegende Informationen zusammengetragen: