Im Grunde wissen wir alle, wie wichtig es ist, fürsorglich, mitfühlend, tolerant und rücksichtsvoll zu sein. Genau das erwarten wir auch von anderen. Jedoch: Nicht immer sind unsere Gedanken und Gefühle derart tugendhaft. Sobald wir unsere Geistesregungen achtsam erkennen, können wir unser tägliches Wohl verbessern. Laut Hildegard von Bingen ist das der beste Weg, gut für unsere Seele zu sorgen.
Hildegard von Bingen scheute sich nicht, auch die negativen Kräfte in den Untiefen ihrer Seele liebevoll zu betrachten, da sie erkannte, dass diese Energien unterschwellig unser tägliches Wohl beeinträchtigen.
Selbstverantwortung nach Hildegard von Bingen
Wer spricht heute noch von Tugenden oder Lastern? Doch eigentlich passen die Begriffe sehr gut zu Hildegard von Bingens Katalog der 35 Geistesregungen. Das Wort Tugend wird von Tauglichkeit abgeleitet. Damit sind Werte gemeint, die zum Leben taugen, das Leben wertvoll und sinnvoll machen. Werte verbinden Menschen und schenken uns selbst das Gefühl, mit uns im Reinen zu sein. Sie bedingen unser Wohlergehen.
Und die lieben, leidigen Laster sind tatsächlich eine Last. Denn wie oft tragen wir schwer an Konditionierungen, Glaubenssätzen oder Erfahrungen aus der Kindheit, die uns unser Wohlergehen vermiesen. So verleitet uns zum Beispiel fehlendes Selbstvertrauen zu Eifersucht oder materieller Geltungssucht. Hildegard von Bingen schrieb von „dämonischen Kräften“, die uns zu Handlungen verleiten, die unserer Seele schaden. Du kannst hier aber ebenso gut von deinen persönlichen kleinen Monstern sprechen, die für deinen Perfektionismus, dein Trübsal, deine Verstocktheit etc. verantwortlich sind. Nenne es, wie du willst. Wichtig ist nur, dass du dir dieser Kräfte, die im Unterbewusstsein wirken, achtsam gewahr wirst, um die entsprechend positiven Gegenkräfte (Tugenden) zu wecken.
Folgende Einsichten nach Hildegard von Bingen kannst du nutzen, um dein Wohlergehen selbstverantwortlich zu steigern:
1. Hildegard von Bingen warnt vor Spott und Zynismus
Zynismus – Sehnsucht (Ineptia laetitia : Gemitus ad Deum)
Wir tragen alle Sehnsucht in unseren Herzen. Oft ist es Sehnsucht nach Geborgenheit und liebevoller Annahme. Viele Menschen treibt auch die Sehnsucht nach einer spirituellen Quelle um, einer Art göttlichen Vertrauen in das Leben, die das große Rätsel unserer Existenz verständlicher macht. Ohne Sehnsucht wird das Leben orientierungslos. Daher ist unsere Sehnsucht ein wichtiger Motor. Hildegard von Bingen erkannte das Schöne und Gute in der Sehnsucht. Die Sehnsucht unserer Seele ist eine positive Kraft, die uns beflügelt, mit dem Leben verbindet und uns lebendig hält. Achte darauf, dass du deine Sehnsüchte nicht unterdrückst. Denn dann läufst du Gefahr, zynisch, spöttisch oder verbittert zu werden. Im schlimmsten Fall betäubst du dich mit Süchten (Arbeitssucht, Esssucht, Alkohol etc.). Achte täglich bewusst darauf, was sich hinter deinem Spott oder deiner zynischen Bemerkung wirklich verbirgt. Die Gegenkräfte deiner Sehnsucht sind der Zynismus und die Verbitterung.
Sei liebevoll zu dir und erlaube dir, zu sein, wie du bist. Durch deine Akzeptanz kannst du mit deinen nicht so positiven Aspekten liebevoll umgehen und lernen, diese in positive zu transformieren.
2. Wertschätzung und Respekt beginnt bei uns selbst
Geringschätzung – Ehrfurcht (Scurrilitas : Reverentia)
In dem Moment, wo wir uns nicht selbst wertschätzen, wird es uns auch schwerfallen, Wertschätzung für andere zu empfinden. Geringschätzung auf der einen und Ehrfurcht (und Respekt) auf der anderen Seite. Nach Hildegard von Bingen ist dieses Kräftepaar im Unterbewusstsein unserer Seele mitverantwortlich für unser Wohlergehen. Achte im Alltag darauf, inwieweit du deine eigenen Bedürfnisse respektiert. Zum Beispiel das Bedürfnis deines Körpers nach Entspannung, deines Geistes nach Ruhe und deiner Seele nach Herzlichkeit. Je rücksichtsloser wir mit uns selbst umgehen, desto härter und respektloser übergehen wir auch die Bedürfnisse ander. Hildegard von Bingen ging es hierbei auch darum, in jedem Menschen das Göttliche ehrfürchtig zu erkennen. Ohne Ehrfurcht und Wertschätzung uns selbst gegenüber ist dieses jedoch nicht möglich. Ein Mangel daran blockiert uns.
Je mehr sich der Mensch seiner göttlichen Abstammung bewusst wird, desto stärker sind seine Ausstrahlung und Würde. … Indem wir im anderen Menschen ebenfalls das Gottesebenbild erkennen, begegnen wir ihm oder ihr genauso respektvoll und würdevoll, wie wir es auch für uns erwarten.
Wighard Strehlow, aus: „Die Psychotherapie der Hildegard von Bingen“
3. Nach Hildegard von Bingen wächst Vertrauen in der Stille
Misstrauen – Vertrauen (Inoboedienta : Oboedienta)
Ohne Vertrauen, das weißt du selbst, wird das Leben zu einem Tanz auf dem Seil. Vertrauen ist die Basis für alles. Es geht um Selbstvertrauen – dir selbst vertrauen – denn wie könntest du ansonsten anderen Menschen vertrauen?
Ist der Same des Misstrauens erst einmal in uns gepflanzt, neigen wir zur Besserwisserei, vermauern uns im Widerstand und reagieren uneinsichtig und intolerant. Leider hat nicht jeder das Glück, in der Kindheit ein starkes Vertrauen in sich selbst und in das Leben mit auf den Weg bekommen zu haben. Sich hier selbstmitfühlend so anzunehmen, wie man ist, hilft unbedingt, dieses im Nachhinein zu stärken. Hildegard von Bingen rät dazu, dem Misstrauen in uns mit Verständnis und Zuhören zu begegnen. In der Achtsamkeit spürst du, was dir wirklich fehlt. Du erkennst, wie du dich durch dein Misstrauen vor Verletzung zu schützen versuchst und kannst dann achtsam deiner inneren Stimme lauschen, was diese sich wünscht. Daher nimm dir möglichst oft während des Tages ein oder zwei Minuten Zeit, um in die Stille zu gehen und zu „hören“, was deine Seele wirklich braucht.
Doch ich strecke meine Hände nach Gott aus, um wie eine Feder, die ohne Schwerkraft im Wind treibt, von ihm getragen zu werden.
Hildegard von Bingen, aus einem Brief an Wilbert von Gembloux
4. Ohne Selbstmitgefühl fällt Mitgefühl für andere schwer
Hartherzigkeit – Mitgefühl (Obduratio : Misericordia)
Wenn dein Kind weint, weil es von seinen Freunden ausgeschlossen wurde, kannst du den Schmerz mitfühlen, denn du weißt aus eigener Erfahrung, wie verletzend sich Zurückweisung anfühlt. Hildegard von Bingen versuchte den Menschen zu erklären, dass unser Mitgefühl immer darauf beruht, wie mitfühlend wir uns selbst spüren. Wenn wir versuchen, unsere Verletzlichkeit zu unterdrücken und möglichst wenig Gefühl zu zeigen, werden wir hartherzig, bis wir uns irgendwann so weit abgeschottet haben, dass wir auch kein Mitgefühl für andere mehr aufbringen können. Mitfühlen bedeutet immer, sich seinen eigenen Gefühlen bewusstwerden und diese zulassen. Dazu gehören auch schmerzhafte Gefühle. In der achtsamen Annahme solcher Erfahrungen öffnen wir unsere Herzen für ein mitfühlendes Miteinander. Erst diese Öffnung ermöglicht es, dass wir in der Lage sind, das Mitgefühl, das auch uns entgegengebracht wird, anzunehmen. Daher achte darauf, alle Gefühle selbstmitfühlend willkommen zu heißen und nicht zu verdrängen, denn jedes Gefühl hat seine Bedeutung und seinen Sinn. In der Achtsamkeit erkennst du die Bedeutung deiner Gefühle und erfährst, dass Gefühle nichts Bedrohliches oder Beschämendes sind.
Wer aber diese Worte des Fingers Gottes ohne guten Grund verbirgt, sie wütend verkürzt oder sie wegen einer menschlichen Empfindung an einem unbekannten Ort beiseite schafft und so nicht ernst nimmt, der sei verworfen. Und der Finger Gottes wird ihn zermalmen.
5. Wer großzügig zu sich selbst ist, ist es auch zu anderen
Engherzigkeit – Großzügigkeit (Acerbitas : Vera largitas)
Hildegard von Bingen sprach in ihren Texten nicht von Selbstmitgefühl. Dieses Wort ist erst mit dem Begriff der Achtsamkeit aufgekommen. Doch in ihren Schriften klingt durch, wie sehr es ihr um ein achtsames Spüren und Fühlen unserer selbst ging. In diesen Momenten bewusster Wahrnehmung können wir uns entscheiden, ob wir unsere Herzen verschlossen oder großzügig Liebe fließen lassen. Achte einmal darauf, wie oft du dich selbst reglementiert: Wann hast du dir zuletzt etwas gegönnt? Zum Beispiel spontan eine Tasse heißen Kakao genossen oder auf einer Bank im Park vor dich hingeträumt. Je großzügiger du dir selbst gegenüber bist, desto großzügiger und liebenswürdiger begegnest du den Menschen. Hildegard von Bingen erkannte, dass Strenge und Intoleranz uns selbst gegenüber verhindert, dass wir tolerant und liebenswürdig im Außen handeln. Achte hierbei auch auf deinen Umgang mit negativen Gefühlen, denn auch hier sollten wir statt innerer Kritik liebevolle Akzeptanz praktizieren.
Die Liebe zur Welt spricht:
Solange ich noch in dieser Welt Schönheit
genießen kann,
will ich sie mit Wonne umfangen.
Barbara Stühlmeyer / Sabine Böhm, aus: „Tugenden und Laster – Wegweisung im Dialog mit Hildegard von Bingen“
6. Hildegard von Bingens Appell an unsere Vernunft
Maßlosigkeit – Vernunft (Immoderatio : Discretio)
Alles in Maßen, bitte schön! Dieser Satz bringt es schon auf den Punkt. Hildegard von Bingen appelliert an unsere Vernunft. Bleibst du achtsam mit dir selbst in Kontakt, dann spürst du, was für dich gut ist, wann etwas zu viel wird beziehungsweise zu kurz kommt. Arbeit, Freizeit, Familie, Freude, Ernährung, Bewegung, Schlaf – in allen Lebensbereichen müssen wir auf das rechte Maß – Discretio – achten. Oft verlieren wir uns jedoch in der von Reizen überfluteten Welt. Zum Beispiel in Bezug auf die Nutzung unseres Handys neigen wir fast alle dazu, öfter online und erreichbar zu sein als uns guttut. Discretio wird häufig mit der Gabe der Unterscheidung übersetzt. Je achtsamer du deinen Alltag erlebst, desto sensibler wirst du für die Balance, die es zu wahren gilt. Dieses bedeutet auch, sich bewusst abzugrenzen. Nein zu sagen, auch wenn sich die Arbeit auf dem Schreibtisch türmt oder die Kinder am Rockzipfel zerren. Doch je geübter und selbstverantwortlicher wir täglich für das rechte Maß sorgen, desto freier und kreativer werden wir in unseren Entscheidungen.
Als sein Werk nämlich ist der Mensch berufen, sich in der Welt zu verwirklichen. An die Elemente der Welt hat sich der mensch zu halten, um sein Maß aus dieser natur und aus keiner anderen bestimmung zu nehmen.
Aus: „Liber Vitae Meritorum: Der Mensch in Verantwortung / Das Buch der Lebensverdienste“
7. Hildegard von Bingen mahnt zur Vorsicht vor Bequemlichkeit
Antriebslosigkeit – Entschlossenheit (Torpor : Fortitudo)
Touché! Da hat Hildegard von Bingen uns doch bestens durchschaut. Denn natürlich ist es einfacher, sich der eigenen Bequemlichkeit hinzugeben. Alle bisher aufgeführten Tugenden beziehungsweise Werte, die zum Leben taugen und das Leben damit wertvoller und sinnvoller machen, erfordern ein wenig Willensstärke von uns:
Sei es der Mut, seine Sehnsüchte anzuschauen, statt sie zu verleugnen (Punkt 1). Der Respekt sich selbst gegenüber, um den eigenen Bedürfnissen Raum zu geben (Punkt 2). Sein eigenes Misstrauen zu hinterfragen, um Vertrauen aufzubauen (Punkt 3). Auch die negativen Seiten selbstmitfühlend anzunehmen (Punkt 4). Liebevoll und großzügig zu sich selbst sein (Punkt 5). Sensibel das rechte Maß einhalten (Punkt 6).
Um all diese positiven Kräfte in unseren Alltag zu integrieren, müssen wir mutig und entschlossen sein. Jede noch so kleine Veränderung scheitert, wenn wir nicht den Willen dazu aufbringen. Sobald du jedoch anfängst, mehr Achtsamkeit in deinen Alltag zu integrieren, entwickelst du automatisch das Verlangen, mehr und mehr aus der Bequemlichkeit herauszukommen. Denn das Schöne an Achtsamkeit ist, dass sie uns sofort mit einem Gewinn an Zufriedenheit erfüllt. Und allzu viel Willenstärke fordert sie uns nun auch wieder nicht ab, lediglich den Entschluss, sich darauf einzulassen.
„Alle Geschöpfe haben etwas Sichtbares und Unsichtbares.Das Sichtbare ist schwach, das Unsichtbare stark und lebendig.“
Hildegard von Bingen, 1098 – 1179
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