Hildegard von Bingen blickte tief. Sie wollte wissen, was uns Menschen ausmacht. Genau deshalb ist die Äbtissin des Mittelalters heute noch immer aktuell. So viele Menschen begeben sich auf Sinnsuche, um endlich ihr Seelenheil zu finden. Dabei brauchst du nicht auf anderen Kontinenten suchen oder gar Meere überqueren. Der Weg zu deinem Seelenheil führt nach innen – zu dir – zu deinem Herzen.
Laut Hildegard von Bingen gibt es zu jedem Gefühl ein entsprechendes Pendant. Und jeder Mensch trägt die Verantwortung, seinen Fokus danach auszurichten.
Alles ist da und darf sein
Ich finde es erleichternd und motivierend, dass in uns Menschen nicht nur Schwarz oder Weiß vorhanden ist, sondern dass wir eine breitgefächerte Palette an Gefühlsregungen in uns tragen. Damit dürfen auch negative Emotionen, wie zum Beispiel Schwermut, Unlust oder Unzufriedenheit, sein. Jawohl, sie dürfen sein, denn sämtliche Regungen haben ihre Bedeutung und wollen uns etwas mitteilen. Hildegard von Bingen hatte einen Katalog der Tugenden und Laster erstellt, um den Menschen zu verdeutlichen, dass ihr tägliches Wohl in der Verantwortung jedes einzelnen liegt. Jeder Mensch fällt im Geiste die Entscheidung, ob er mitfühlend, führsorglich und vorrausschauend wirkt, oder ob er sich den dunklen Seiten seiner Gefühlswelt (den Lastern) hingibt. Ihr ging es nicht darum, die Laster zu verbannen, sondern ihr war es wichtig, sich diese anzuschauen in dem Wissen, dass jedem Laster eine Tugend gegenübersteht.
Hier ein Beispiel dazu: Einerseits reitet dich manchmal die Spottlust, du fühlst Schadenfreue oder gibst dich zynischen Kommentaren hin. Doch statt dich dafür zu verurteilen, kannst du achtsam schauen, warum du derartige Gefühle in dir trägst. Und gleichzeitig darauf vertrauen, dass dem Laster der Spottsucht die Tugend der Warmherzigkeit gegenübersteht. Vielleicht lässt du dich nämlich nur deshalb zu Hohn und Spott hinreißen, weil in dir die Sehnsucht nach Geborgenheit nicht erfüllt wird. Doch du selbst kannst für Geborgenheit sorgen, indem du dir zum Beispiel durch warmherzige Selbstfürsorge ein geborgenes „mit dir selbst Sein“ gestaltest. Oder du suchst bewusst warmherzige Verbundenheit mit anderen Menschen.
Jeder Mensch hat die Gabe, sich seiner Gedanken und Gefühle bewusst zu werden, um sich zu entscheiden, was wichtig ist und was ihm guttut.
Zu jedem Negativ gibt es ein Positiv
Hildegard von Bingens Begriffe „Laster“ und „Tugenden“ klingen altmodisch und wie mit dem Finger der Moral gepredigt. Unter Laster versteht Hildegard von Bingen Gefühlsregungen, die unsere Seele belasten, und die verhindern, dass wir zufrieden und dankbar all das Gute und Schöne in unserem Leben erkennen und genießen. Sie rauben uns Lebensfreude. Und unter Tugenden versteht Hildegard von Bingen Werte, die „zum Leben taugen“. Denn das deutsche Wort „Tugend“ wird von „taugen“ abgeleitet. Also all die Werte, die unser Leben bereichern, uns Freude und ein liebevolles Miteinander schenken.
Doch ich will hier gar nicht den gesamten Katalog Hildegard von Bingens auflisten. Viel wichtiger ist es für uns, dass wir das Wissen, dass es zu jedem negativen auch ein positives Pendant gibt, tief in uns verankern. Hier ein paar „Gefühls-Paare“ zur Verdeutlichung:
- Feigheit – Mut
- Sorge um Materielles – Gottvertrauen
- Selbstzerstörung – Lebenswille
- Weltschmerz – Lebensfreude
- Schwermut – Optimismus
- usw.
Jedes Gefühl, das dich belastet, vergeht auch wieder, sobald du es erkennst und vertraust, dass die gegenteilige Gefühlsregung ebenso in dir existent ist.
Aus dem „Sein“ ergibt sich die Wirklichkeit
Hildegard von Bingen schreibt in ihren Texten, dass sich die „Sinngebung der Wirklichkeit“ in dem Menschen zu vollem Bewusstsein kommt. Und diese Gabe des Menschen befähige ihn dazu, zu entscheiden und selbst die Verantwortung zu tragen. Ein Hund beispielsweise weiß nicht, dass er sich traurig fühlt. Er fühlt sich traurig, ist sich dieser Traurigkeit aber nicht bewusst. Anders bei uns Menschen, denn wir können diesen Gefühlszustand erkennen und benennen. Und wir können ebenso erkennen, warum wir traurig sind, welche Situation dazu geführt hat, welche Erfahrungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen dazu geführt haben. Damit tragen wir jedoch auch selbst die Verantwortung, wie wir mit den jeweiligen Gefühlszuständen umgehen.
Je achtsamer du deine Gefühle wahrnimmst und je wertfreier du sie annimmst, desto größer dein Verständnis.
Vielleicht kennst du das auch, dass du dich manchmal grundlos traurig fühlst. Dabei läuft alles gut und es gibt keinen offensichtlichen Grund für deine Traurigkeit. Doch in dem Moment, wo du dieses Gefühl achtsam wahrnimmst, nimmst du es liebevoll an. Dieses Gefühl darf sein. Indem du es zulässt und annimmst, vertraust du bereits darauf, dass es auch wieder weggeht. Du sträubst dich nicht länger dagegen, sondern lässt es zu. Mit dieser Haltung praktizierst du Selbstmitgefühl. Du fühlst mit dir selbst und spürst vielleicht, dass du ein wenig langsamer machen solltest oder dir selbst etwas Gutes tun möchtest. Du agierst jetzt führsorglich für dich selbst und deine Haltung dir selbst gegenüber wird verständnis- und liebevoller. Und plötzlich spürst du das „Sein“ intensiver als zuvor.
Je bewusster du dir deiner Gefühle wirst, desto intensiver erlebst du die Wirklichkeit.
Dann erkennst du, wie sehr deine Haltung deine Wahrnehmung prägt, dein Sehen, Dein Hören, Dein Schmecken, Dein Riechen und letztendlich dein Fühlen.
Hildegard von Bingen tauchte tief in diese Zusammenhänge ein und je intensiver wir uns damit beschäftigen, desto mehr tauchen wir in das „Sein“ ein. Allein deswegen, weil wir achtsam wahrnehmen und uns bewusstwerden.
Es lohnt sich, Hildegard von Bingens über Jahrhunderte angestaubten Katalog der Laster und Tugenden zu entstauben und sich über die „Gefühlspaare“ Gedanken zu machen. Ich finde es irgendwie auch tröstlich, zu wissen, dass all diese Polaritäten in mir schlummern. Es schenkt mir Freiheit, denn es erlaubt mir, mich mit allen Emotionen, die mich ausmachen, liebevoll anzunehmen.
Heute lache ich, morgen weine ich, dann fühle ich mich voller Neid und tags drauf gebe ich mit vollen Händen. Mal stolziere ich selbstherrlich meiner Wege und dann wieder schätze ich demütig wert und nehme mich zurück. Verzweiflung drückt mich manchmal nieder, doch schon bald sprudelt die Hoffnung aus mir heraus.
Alles darf sein. Denn jeder Mensch ist so bunt wie das Leben.
- Ich erlaube mir negative Gefühle, nehme sie achtsam wahr und verurteile mich nicht dafür, denn ich weiß, ebenso existiert eine Fülle an positiven Gefühlen in mir.
- Fühle ich mich seelisch nicht gut, spüre ich achtsam in mich hinein, was mir jetzt guttun würde, um mich selbst liebevoll zu umsorgen.
- Ärgere ich mich über einen Menschen, erinnere ich mich bewusst an Hildegard von Bingens Katalog, denn dieser Mensch trägt alle Tugenden in seinem Herzen.
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